Hier die aktuelle Linkedin-Serie von Klaus Eidenschink
Wozu Gefühle?
Hier finden sich alle bisherig erschienenen Teile der aktuell auf Linkedin laufenden Posting-Serie von Klaus Eidenschink. Ein kleiner Service für alle, die gelegentlich mal einen Sonntagspost - immer um 7.30 Uhr - verpassen.
Meine neu beginnende Serie wird sich mindestens ein Jahr lang mit Gefühlen, Affekten, Emotionen, Gestimmtheiten, Intuitionen, Wallungen, Erregungen, Empfindungen - als ganz allgemein mit „Feelings“ - beschäftigen. Schon an der Fülle der Begriffe lässt sich erkennen, wie verworren das Gelände ist, in das man sich hier begibt. Viele Menschen suchen in Glücksgefühlen ihre Zufriedenheit, andere werden von unangenehmen Gefühlen gegen alle Absicht heimgesucht und aus der Bahn geworfen. In Organisationen wollen die einen sie tilgen zugunsten von Rationalität und Sacharbeit, andere sehen die Beschäftigung mit Gefühlen als Voraussetzung gedeihlicher Zusammenarbeit. In Konflikten wie in der Liebe kochen Emotionen hoch oder über. In Teams verbinden und trennen Gefühle und bestimmen die Beziehungsmuster. In Familien führen Gefühle zu Nachwuchs wie zu Morden.
Da lohnt es sich dann doch zu fragen, was denn die Funktion all dieser so unterschiedlicher Phänomene sein könnte. Wozu also Gefühle? Wie ist dieses seelische Phänomen zu begreifen?
- Leiten sie in die Irre oder stiften sie die „eigentliche“ Orientierung? Wenn beides zutrifft, woran erkennt man dann den Unterschied?
- Dienen sie zur Klärung und Stabilisierung von Beziehungen und größerer sozialer Systeme oder haben sie zerstörerische und desintegrierende Wirkungen? Wenn beides stimmt, wie kann man sich das erklären?
- Informieren Gefühle über die aktuelle Situation oder sind sie Muster der Vergangenheit, die die Gegenwart ungünstig beeinflussen?
- Kann man sich durch Gefühle anstecken und wozu dient das im Fall des Falles?
- Bestimmen Gefühle das Denken oder ist es andersherum? Kann man überhaupt ohne Gefühle denken und ohne Gedanken fühlen?
- Wie lassen sich Gefühle verändern bzw. geht das überhaupt?
- Kann man anderen Menschen Gefühle machen oder ist man dafür selbst verantwortlich?
- Gibt es gute Gründe für schlechte Gefühle und schlechte Wirkungen guter Gefühle? Wenn ja, wie kommt das?
Diese paar Fragen zeichnen nur einen kleinen Teil des Horizontes, den ich in den kommenden Wochen ausschreiten möchte. Dabei wird es konsequent darum gehen, aufzuzeigen, dass jedes, wirklich jedes Gefühl funktional und dysfunktional sein kann. Ebenso werde ich Gefühle weder einseitig als psychologisches Phänomen verstehen noch als soziales, sondern ich werde beide Perspektiven im Spiel halten. Gefühle haben psychodynamische wie kommunikative Funktionen. Beides muss betrachtet werden.
Die Bedeutung für Beratung, Therapie und Coaching wird besondere Aufmerksamkeit bekommen. Hier sind die Konzepte unglaublich divers. Die Folgen für die Methoden und Interventionen sind gewaltig.
Ich verspreche keine allumfassenden Antworten. Eher den Versuch, das Feld nachdenklich und nachfühlend auszuleuchten. Dabei werden nach und nach viele Gefühle in den Fokus kommen: Angst, Ärger, Lust, Freude, Eifersucht, Trauer, Neid, Ohnmacht, Scham, Schuld, Begierde, Ekel, Hass, Rache, Verzweiflung, Sehnsucht und andere mehr.
Die Definitionen von Gefühl, Affekt, Emotion u.a. sind in der Psychologie wie in der Soziologie vollkommen uneinheitlich. Ob damit innere Erwartungsmuster, gegenwärtiges Erleben, körperliche oder physiologische Zustände, erworbene Verarbeitungsstrategien gemeint sind, ob man Rationalität oder Wille oder Vernunft als Gegenbegriffe wählt, ob man Selbststeuerung voraussetzt oder einen Reiz-Reaktion-Zusammenhang annimmt - all das ist an Gegensätzlichkeit kaum zu überbieten.
Ich möchte daher hier eine Art Oberbegriff nutzen, der vergleichsweise „unverbraucht“ ist. Er stammt von Martin Heidegger. Er sagt, dass der Mensch, indem er einfach nur „da“ ist, immer auch schon „gestimmt“ ist. Gestimmtheit ist für ihn Grundvollzug von Menschsein. Wir sind Wesen, die von Stimmungen durchflutet sind und diesen eine Form verleihen - so wie wir etwa auch Sprechen, Denken oder Wollen gestalten. Fühlen ist eine Form, wie wir in Resonanz mit der Welt sind. Es verbindet uns mit allem, was Nicht-Ich zu sein scheint. Jeder Mensch ist indem, dass er sich fühlend vorfindet, in die Welt geworfen.
Wir können uns nicht aussuchen, OB wir gestimmt sind. Die Wahlmöglichkeit besteht darin, WIE wir gestimmt sind. Im Fühlen erkennen und bewerten wir die Welt. Das lässt sich nicht umgehen. Fühlen ist eine Erkenntnisquelle. Ich fühle, also weiß ich etwas! Nur - wenn man wahrnimmt, wie „man drauf ist“, was erkennt man dann? Gestimmt ist man nämlich aufgrund innerer - meist unbewusster - Erwartungen, die man mit äußeren Reizen verbindet.
Damit stellt sich ein fundamentales Problem: Reagiere ich im Fühlen auf mich selbst oder reagiere ich auf die Welt? Beides ist möglich und beides fließt ineinander. Vielleicht ist das der entscheidende Grund, warum Leben so leidbringend sein kann.
Wenn Gestimmtheit einen Bezug zum Moment hat, nennen das viele Autoren „Gefühl“. Wenn sie Folge eines inneren Verarbeitungsmusters ist, das mit der gegenwärtige Lage nichts zu tun hat, wird das meist oft Emotion genannt. Dummerweise handhaben andere Autoren die Begriffe genau andersherum. Ich werde nur von Gefühlen reden und wo nötig kennzeichnen, ob ich damit Gefühle oder Emotionen meine.
Wichtig ist hier: Unsere frühe emotionale Lerngeschichte führt zu einem umfangreichen Vorrat an gefühlten Wertungen darüber, was uns gut tut und was nicht. Damit sind Gefühle - wenn sie nicht bearbeitet werden - immer stabile Vorurteilsspeicher. Sie informieren über das, was man über Resonanzerfahrungen gelernt hat und was man von der Welt erhofft und befürchtet. Gefühle können massiv täuschen und in die Irre führen, weil sie die gegenwärtige Welt so erleben lassen, wie man es in vergangenen Zeiten erfahren hat.
Da sie keinen Zeitstempel tragen, hält man sein Erleben für einer Reaktion im Hier und Jetzt. Man merkt nicht unbedingt, dass man emotional nicht erwachsen ist. Weil Gefühle zusätzlich mit der Unterscheidung angenehm/unangenehm codiert sind, entstehen Probleme, die ich beim nächsten Mal aufgreife.
Ein kleines Kind läuft schneller als es kontrollieren kann, fällt hin, tut sich (körperlich) etwas weh - und schaut dann zu den Eltern, wie diese reagieren. Bleiben diese gelassen und entspannt (denn es fließt kein Blut!), steht das Kind auf und läuft weiter. Erschrecken sich diese und geraten mimisch unter Anspannung, fängt das Kind zu weinen an und ruft nach Hilfe. Das Kind lernt, was es in solchen Situationen fühlen soll: Gelassen oder bestürzt. An diesem einfachen Beispiel lässt sich verstehen, dass Gefühle nicht Automatismen sind, die auf einem Reiz-Reaktions-Schema gründen. Die Irritation des Sturzes führt zu einer Empfindung von Schmerz beim Kind. Darin besteht das gegenwärtige Gefühl. Wird dieses Gefühl verknüpft mit der Erwartung, dass etwas Schlimmes passiert ist, was - auch von den Großen - nicht kontrolliert werden kann, wird aus der fühlenden Suchbewegung „Wie schlimm ist es denn?“ eine generelle Angst „Hinfallen ist schlimm!“. Irgendwann prüft das Kind gar nicht mehr, wie weh es tut, sondern fängt habituell sofort zu weinen an. Die erlernte Erwartung, dass Schmerz schlimm ist, führt zu Vorsicht und Empfindlichkeit. Kontrolliertes und vermeidendes Verhalten greifen möglicherweise um sich. So wird aus Schmerz (= gegenwärtiges Gefühl) die Erwartung von Leid (= erlerntes Gefühl). Ängstliche Gestimmtheit entwickelt sich zu einem Aufmerksamkeitslenker, der erlernt(!) Schlimmes, verhindern möchte. Aus Schmerz wird Leid.
Menschen können etwas als gefährlich, beschämend, bedrohlich, falsch oder verboten ansehen, weil sie erlernt haben, dass es sich so anzufühlen hat. Es wird emotional - nicht kognitiv - abgespeichert, welche Reaktionen von anderen zu erwarten sind, wenn man sich etwas traut, sich zeigt, Nähe und Trost sucht, neugierig und selbstvertrauend ist, Unterstützung möchte, zugehörig sein will etc.! Gefühle werden so zu gespeicherten Erinnerungen, die mit Bedürfnis- und Vermeidungsmotiven gekoppelt sind. Da unangenehme Gefühle vom Bewusstsein nur mit Mühe ausgeblendet werden können, leiten sie menschliches Verhalten wie kognitive Einstellung in erheblichem Ausmaß. (Alte) Gefühle bestimmen das Denken und Wollen, andersherum ist das sehr viel weniger möglich.
Menschen haben also die Fähigkeit „falsch“ zu fühlen, weil sie emotionale Schemata der Vergangenheit in der Gegenwart erleben. Die emotionale Vergangenheit ist dann NICHT vergangen, sondern ein „Täglich-grüßt-das-Murmeltier!“. Verbunden mit der hohen subjektiven Überzeugungskraft, die Gefühle haben, entsteht so eine Gemengelage, in der unklar ist, wie stark die grundlegende Form des „Weltbezugs“ - unsere Gefühle - in der jeweiligen Situation getrübt sind.
Da schreit geradezu nach Kriterien, an denen man ablesen kann, ob ein Gefühl über die gegenwärtige Situation informiert, eine Projektion emotionaler Erwartungen ist oder eine Mischung aus beidem. Darum geht es nächste Woche - um mal einen kleinen Cliffhanger zu wagen.
Wenn Gestimmtheit sowohl durch emotionale Schemata disponiert sein kann, als auch durch die gegenwärtig-fühlende Resonanz auf die Situation, braucht man Kriterien, an denen sich erkennen lässt, welche Funktion das hat, was man spürt.
Im Abstrakten ist es leicht zu benennen:
Entweder: (1) Hilft ein Gefühl dabei, ein (echtes) Bedürfnis von mir zu leben oder hilft es, mit anderen Menschen und der Natur in Kontakt zu kommen? Dann unterstützt es meine Fähigkeit, passende Antworten auf gegenwärtigen Lebensumstände zu finden. In dem Fall bin ich fühlend mit der Welt verbunden! Ich lebe im Hier-und-Jetzt.
Oder: (2) Dient ein Gefühl dazu, etwas Unangenehmes in mir selbst abzuwehren und im Außen zu manipulieren? Dann ist es Ausdruck davon, dass ich innerlich - meist ohne das zu wissen - mit abgespeicherten Erwartungen beschäftigt bin, die mir einflüstern, dass etwas auf keinen Fall geschehen darf oder in jedem Fall geschehen muss. In dem Fall bin ich fühlend mit meinem erworbenen Schemata beschäftigt. Ich lebe im Film meiner nicht verschwundenen Vergangenheit.
Diese Unterscheidung in Bezug auf die Funktion von Gefühlen lässt sich nun weiter reflektieren. Eigendiagnostische Fragen, die man sich in Bezug auf (1) stellen kann, wären (beispielsweise) solche:
Dient mein Gefühl dazu,
- mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, mit ihnen zu schwingen, meine Grenzen genauso zu spüren wie das, was ich mit ihnen teilen will?
- kontaktloses Verhalten anderer zu erschweren, mich kraftvoll zu zeigen, wo jemand mich unangemessen übersieht, Manipulationen aufzudecken oder gegen gewalttätiges Agieren mich zu behaupten?
- mich mit mir wohl zu fühlen, meine kreativen Innenräume zu pflegen, mich selbst zu genießen, mich mit Vitalität und Lebendigkeit zu versorgen und Glück wie Unglück in mir regulieren zu können?
- anderen es zu erleichtern, sich in mich einzufühlen und lesen zu können, was in mir vorgeht, und ihnen mich so zu zeigen, dass ich ihr Interesse wecke?
Antwortet man hier mit JA, hat das jeweilige Gefühl voraussichtlich einen Bezug zum Hier und Jetzt.
In Bezug auf die dysfunktionalen Aspekte seines Gestimmtseins kann man sich (beispielsweise) fragen:
Ist mein Gefühl ein Anlass,
- mich oder andere abzuwerten, mich zu rechtfertigen oder anderen Schuld zuzuweisen?
- mich sofort beherrschen zu müssen, mich „abzustellen“ oder mich „einzufrieren“?
- andere mundtot zu machen, mit ihrem Anders-Sein nicht einverstanden sein zu können oder in eisernes Schweigen zu verfallen?
- mich einsam zu machen, am Interesse anderer oder dem Vertrauen zu anderen zu zweifeln?
- mich selbst oder andere unter Druck zu setzen, in Anspannung zu geraten, die nicht weichen will oder mich im Außen mit Zielsetzungen aufzuladen, von denen ich gar nicht sagen kann, welches Bedürfnis ich damit hoffe zu befriedigen?
Antwortet man hier mit JA, hat man an der Stelle sehr wahrscheinlich ein Problem!
Diese Fragen sind natürlich nur eine kleine Auswahl…!
Gefühle werden vornehmlich als etwas angesehen, was nur die Psyche betrifft. Das ist so ein Resteffekt der Ein-Personen-Psychologie, die lange betrieben wurde. Gefühle haben eine enorme soziale Bedeutung und können in ihrer Dynamik nur zureichend verstanden werden, wenn man ihre Wirkungen auf Beziehungen und auf das Leben in der „Masse“ der Gesellschaft mit untersucht. Gefühle sind Grundlage für soziales Geschehen.
Die erste der beiden wichtigen Funktionen, die Gefühle für das Zusammenleben haben, ist, dass sie Menschen untereinander verbinden als auch trennen. Sie stiften Kontakt oder erschweren und unterbinden ihn. Viele Gefühle lassen sich einer der beiden Bewegungen zuordnen: Liebe, Freude, Lust, Stolz, Trauer, Vertrauen, Dankbarkeit, Mitgefühl bringen meist eher zueinander, während Neid, Eifersucht, Ärger, Ekel, Wut, Groll, Ohnmacht, Verzweiflung, Schuld, Verachtung, Empörung eher Distanz erzeugen. Angst wie Scham können beiden Funktionen dienen: Sich aus Angst zusammenfinden oder aus Angst davonlaufen bzw. in Scham Trost suchen oder in der Versenkung verschwinden.
Die Auflistung dient nur als erster Hinweis für verwickelte und verzwickte Verhältnisse, die oft durch Mischung oder gleichzeitig Aktivierung unterschiedlicher Stimmungen noch vertrackter werden. Denn - jeder kennt das - man kann sich besonders intensiv über jemand ärgern, den man liebt, oder zwischen Vertrauen und Eifersucht pendeln. Solche Gefühlslagen können unschwer dahingehend gedeutet werden, dass die Psyche kein monolithischer Block ist, der eins mit sich selbst ist, sondern viele Möglichkeiten hat, Facetten des Selbsterlebens widerspruchsreich zu aktivieren. Das ist der innenpsychische Aspekt.
Die Funktion besteht darin, dass soziale Ordnung ohne Gefühle auf Seiten der im Spiel befindlichen Menschen nicht möglich wäre. Nicht nur Gefühle schaffen soziales Miteinander, sondern auch soziales Miteinander erzeugt Gefühle! Über Gefühlsstimulation sorgt das Kommunikationssystem für Motivation, dass die einen auf die Mitteilungen anderer reagieren: Entweder attraktiv mit JA oder aversiv mit NEIN. In beiden Fällen führt es dazu, dass die Kommunikation weitergeht. Mit Hilfe von Gefühlen sorgen soziale Systeme u.a. für eine (stabile) Auswahl derer, die sich an der Kommunikation beteiligen wollen. Luhmann hat in seiner Systemtheorie diesen Aspekt ganz stiefmütterlich behandelt. Leider.
Sieht man Gefühle als etwas an, was das soziale System braucht, um sich zu regulieren - so wie die Psyche Gefühle nutzt, um sich zu orientieren -, werden Gefühle (vergleichbar wie Sprache) ein Medium, in dem sich sowohl soziale wie seelische Strukturen entfalten. Gefühle sind Selektionsgeneratoren, um Menschen zu motivieren, sich an bestimmten Kommunikationen bejahend oder verneinend zu beteiligen. Dazu braucht es (soziale) Ereignisse, die Gefühle bei Menschen stimulieren.
Gefühle sind Medien, in denen sich soziale Systeme und die psychische Systeme gewissermaßen treffen. Kunstsprachlich sagt man, dass beide Systeme darüber miteinander gekoppelt sind. Das macht die Sache unübersichtlich, denn das ist so, als ob zwei Personen gleichzeitig ihre Hände am Lenkrad haben. Dann weiß man nicht mehr so recht, wer nun worauf Einfluss genommen hat und welche Absichten sich da begegnen.
Zum einen kommen also die Personen mit ihren individuellen Erwartungen ins Spiel, wie sich in ihnen selbst und im sozialen Miteinander Situationen entwickeln und welche Gefühle dabei gespürt, ausgedrückt und verarbeitet werden müssen. Zum anderen liefert die soziale Situation Erwartungsmuster an, welche Gefühle erwünscht und unerwünscht sind, welche moralisch oder amoralisch, welche zu Einschluss und Ausschluss aus der Gruppe führen, welche zu Konflikt und zu Harmonie beitragen etc. pp. Da spielen makro-, meso- und mikrokulturelle Vorgaben eine große Rolle. Das soziale System legt sich seine Menschen quasi zurecht. Wer mehreren Kulturräumen angehört, weiß wie sehr es sich ändern kann, worüber man sich aufregt, ob man sich für Unpünktlichkeit schämt, wann man unbefangen jemand anspricht oder es schüchtern lässt. Menschen sind in ihren Gestimmtheiten ganz besonders „Kontextwesen“ und sind nicht einfach so wie sie (immer) sind.
Wer jemand kennenlernt, lernt ihn oder sie immer in einem Kontext kennen. Ein wichtiges Element jedweder Situation sind die Rollen, die man hat. Als Chefin fühlt man anders als als Mitarbeiter, als Elternteil anders als als Kind, als Tourist anders als als Einheimischer, auf der Bühne anders als als Zuschauer. Soziale Kontexte wie Menschen finden sich weiterhin in der Zeitdimension vor: Unter Zeitdruck fühlen wir anders als ohne, auch die Kommunikation unter Fristen wird so, dass sie andere Gefühle hervorruft, als wenn alle Zeit der Welt ist.
Gefühle hat man also nicht, sondern sie werden sozial hervorgelockt und wir stimulieren sie bei anderen. Durch das, was die gemeinsame Aufgabe ist, mit wem wir es machen und wann, wo und wie lang. Gefühle gehören uns nicht selbst, sie sind immer auch Teil der sozialen Situation.
Unser „Selbst-Prozess“ findet seine Gestimmtheiten also aus den Mustern unserer biographisch gegenwärtigen Vergangenheit, aus der Resonanz auf den Moment und aus den geschriebenen und ungeschriebenen Erwartungen, die vom soziale Feld präsentiert werden. Der Sog unserer eigenen Schemata tritt in Konkurrenz zum Sog der sozialen Situation. Dazwischen steht oft einsam und verlassen die ureigene Reaktion auf das Hier-und-Jetzt.
Man kann also wissen, dass es enorme Kompetenz braucht, um sich nicht ans Außen wie ans Innen völlig zu verlieren. Skepsis gegenüber den eigenen emotionalen Automatismen und Zivilcourage gegenüber sozialen Gepflogenheiten: Wer nicht beides hat, ist sich oder anderen ausgeliefert.
Jeder Reiz im Außen (und Innen) wird von der Psyche mit einem Etikett versehen, auf dem „angenehm“ oder „unangenehm“ steht. Freud nannte es das Lustprinzip und verortete es in den Tiefen seiner Triebtheorie. Wenn man es von dieser Engführung löst und die Unterscheidung Lust/Schmerz oder (weniger dramatisch) attraktiv/aversiv als Orientierung ansieht, an der Lebewesen grundsätzlich ihre Wahrnehmung ausrichten, dann wird klar, wie bedeutsam die Koppelung von Gefühlen mit der Unterscheidung Lust/Schmerz ist.
Wir orientieren uns dann nämlich einerseits an Gefühlen und andererseits an ihrer attraktiven oder aversiven Bewertung. Das kann innerpsychisch zu der vertrackten Lage führen, dass die emotionale Resonanz auf die Welt nicht mehr die ganze Bandbreite der Gefühle umfassen darf, sondern dass Menschen sich vorrangig daran orientieren, was angenehm oder unangenehm ist.
Gefühle werden jedoch pseudoüberzeugend, wenn wir uns an Lust und Unlust orientieren. Denn dieser Fokus führt zu naheliegenden, aber falschen Schlussfolgerungen, von denen ich hier mal ein paar nenne:
Etwas macht mir Angst, also ist es falsch. Etwas macht mich stolz, also ist es richtig. Etwas macht mich unglücklich, also ist es abzustellen. Etwas macht mich glücklich, also sollte ich es wieder tun. Etwas tut mir weh, also ist es böse. Mir ist langweilig, also soll ich es lassen. Ich schäme mich, also ziehe ich mich besser zurück. Etwas macht mich lüstern, also sollte ich es tun.
Keine dieser Schlussfolgerung ist automatisch angemessen. Stattdessen gilt es zu prüfen, ob ein unangenehmes Gefühl wirklich dysfunktional ist bzw. - andersherum - ob angenehme Gefühle wirklich funktional sind. Ängste, Trauer und Scham können unerlässlich für die seelische Verarbeitung vieler Situationen sein. Ebenso können Stolz, Genuss, Freude mit Süchten, Ausbeutung anderer oder Selbstschädigung verbunden sein.
Hat man diesen Zusammenhang verstanden, ergibt sich eine einfache Schlussfolgerung. Die Kernkompetenz, um in der Welt gut zurechtzukommen, besteht zum einen darin, unangenehme Gefühle tolerieren zu können und ihre Bedeutung zu erforschen, und zum anderen darin, angenehme Gefühle nicht automatisch als erstrebenswert anzusehen und die Fähigkeit zu haben, bei Bedarf auf ein solches Erleben verzichten zu können.
Kurz gesagt: Hedonismus macht unglücklich. Ohne Gefühle wie Angst, Trauer, Ohnmacht und Scham kann kein Mensch alte Muster aufarbeiten und ist in Lebenssituationen, in denen solche Empfindungen angemessen sind, aufgeschmissen. Alle Gefühle können hilfreich und irreführend sein. Die Orientierung an Lust und Unlust ist für Entscheidungen, was der Fall ist, in einer komplexen Welt nicht wirklich hilfreich.
Persönlichkeit-, Team- und Organisationsentwicklung scheitern, wenn die Bereitschaft, Ängste etc. auszuhalten und auf lustvolle Vorteile auch verzichten zu können, fehlt. Hier ist ein weites Feld, in dem Beratung aller Art sich austoben könnte.
Menschen müssen für andere wie für sich selbst wiedererkennbar sein. Menschen möchten andere Menschen einschätzen können. Soziale Systeme wie Gruppen und Organisationen brauchen die emotionale Wiedererkennbarkeit von Rollenträgern, damit ausreichend Erwartungssicherheit in der Kommunikation herrscht. Für jede dieser Notwendigkeiten sind Gefühle funktional (und deshalb auch potentiell dysfunktional).
Gefühle binden Zeit, indem sie Vergangenheit und Zukunft aufeinander beziehen: Gestern hat mich der Papa geschimpft (= Angst bekommen), also bin ich morgen vorsichtig (= Angst vermeiden). Gestern hat mich die Gruppe begeistert empfangen (= Freude), also bringe ich morgen wieder Kuchen mit (= Vorfreude). Gefühle neigen zu Musterbildung, sie verallgemeinern sich. Damit dienen sie der Funktion, Komplexität zu mindern und stabile Erwartungsschemata zu bilden. Gedanken allein sind zu beliebig. Sie bieten zu wenig Anlass, um aus der Fülle der Möglichkeiten etwas verlässlich auszuwählen. Gedanklich ist zeitübergreifende Aversion oder Attraktion kaum herstellbar.
Fehlt eine stabilisierende Gefühlsfunktion, entstehen psychische wie soziale Probleme. Wenn Menschen emotional unberechenbar oder chronisch ausdrucksarm sind, sind sie zu wenig lesbar. Das wäre vergleichbar, als ob in einem Buch vollkommen zufällig die Sprache wechselt oder immer der gleiche Satz wiederholt wird. Beides wäre anstrengend. Menschen wechseln also unter Normalbedingungen nicht ständig ihre Gefühle aus. Liebt man heute seinen Beruf, Partner, Wohnort etc., haßt ihn am nächsten Tag und liebt ihn übermorgen wieder, dann gilt das als problematisch.
Vergleichbares gilt für den Umgang mit der eigenen Person. Auch für sich selbst wird man kalkulierbar, wenn man schon im Vorhinein weiß: Darüber rege ich mich auf, darauf reagiere ich mit Scham, hierauf mit Angst, auf das mit Freude, auf jenes mit Erregung und hier rufe ich Trauer in mir auf. Gefühle stabilisieren Identität und motivieren bestimmte Umstände zu suchen und andere zu meiden. Diese Leistung kann auch dysfunktional werden, wenn die emotionalen Muster absolut fixiert sind und keinen Spielraum für Entscheidungen belassen. Dazu nächste Woche mehr.
So sind Gefühle auch ein Mittel, um sich - zeitstabil - mit anderen Menschen in der jeweiligen Gestimmtheit zu verbinden. Die vielleicht wichtigsten Gestimmtheiten in dem Zusammenhang sind Liebe und Feindschaft. Beide binden aneinander: Im Guten wie im Schlechten. Darum gehen sie auch oft ineinander über, weil sie zur gleichen Intensität fähig sind.
Kein Wunder also, dass auch Organisationen auf die Idee kommen, Gefühle für die Motivation ihrer Mitarbeiter zu instrumentalisieren. Belohnungssysteme, Bedrohungspotentiale, Tee- und Gerüchteküchen, Purposeversprechen, Wertschätzung, Gleichbehandlung etc. - allesamt sind es (auch) Mittel um Gefühle zu provozieren, die der Arbeitsleistung und der Bindung zum Unternehmen zuträglich sein sollen.
„Über den muss man sich doch aufregen!“, „Da bekomme ich Angst!“ „Da konnte ich mich nur noch in Grund und Boden schämen!“
Solche Aussagen sind weit verbreitet. Gefühle werden als (notwendige) Reaktion auf äußere Situationen erlebt bzw. interpretiert. Gefühle werden meist nicht als eigene Handlung und innere Entscheidung angesehen. Damit gibt man jedoch einen unerlässlichen Teil der Selbstregulation und damit der Selbstverantwortung auf. Man kann Gefühle wählen. Man kann nicht nur, man tut es. Jede. Jeder. Allerdings sehr häufig nicht bewusst, sondern unbewusst. Jeder muss es eigenständig lernen, die emotionale Reaktion auf äußere Reize zu beeinflussen. Leider ist es kein Schulfach in unserem Bildungssystem. Das hat Folgen.
Ist man nämlich auf einem Selbstkompetenzniveau, auf dem man sich als Reiz-Reaktion-Wesen erlebt, ist man der Welt ausgeliefert. Die Welt, die Ereignisse, die Anderen - all das bestimmt, wie „es mir geht“. Man kann auf der Basis dann nur versuchen, "schöne" Reize zu häufen, und "schlechte" Reize zu meiden.
Die verhängnisvolle Suggestion, dass man anderen Menschen Gefühle machen kann, ist Teil unserer Kultur: „Damit machst Du den Papa/die Mama aber traurig (oder stolz, froh, wütend etc.)!“ Dieser gewalttätige Satz gaukelt dem Kind vor, dass es Macht über die Gefühle von Erwachsenen hat. Damit zwingt man es in die Anpassung und induziert eine Grandiositätsidee. Dabei ist es die Entscheidung des Erwachsenen, auf ein bestimmtes Verhalten des Kindes mit Trauer zu reagieren. Jeder weiß eigentlich, dass man auf gleiches Verhalten anderer, je nach eigener Verfassung und der aktuellen Beziehung vollkommen unterschiedlich reagieren kann. Schon daraus kann man ableiten, dass es keinen Automatismus gibt.
Wenn also Gefühle ein unbewusster Wahlvorgang sind, hängt alles davon ab, dass man die Freiheit wiedergewinnt, eine bewusste emotionale Antwort auf äußere Ereignisse geben zu können. Der erste Schritt dazu ist, den schlichten Sachverhalt anzuerkennen, dass man gewählt hat und man nicht weiß warum.
Selbsterforschungsideen wären: Wie nutze ich meine Gegenüber oder die Situation, um mir Angst zu machen? Wieso nutze ich z.B. Misstrauen, um darauf zu antworten? Wie mache ich es, Schuld oder Scham zu empfinden? Welche alternativen Antworten könnte es in mir geben? Worüber informiert es mich, wenn ich nicht „Herr“ oder „Frau“ meiner Gefühle bin?
Ohne derartige (emotionale) Selbsterforschungsprozesse werde ich zur Bühne von emotionalen Ereignisketten. Früher sagte man, dass Götter oder Dämonen das Verhalten von Menschen bestimmen. Das finde ich keine schlechte Metapher dafür, wenn Menschen glauben, dass sie für ihre Gefühle „nichts können“!
Ist es herausfordernd, einen Umgang mit intensiven Gefühlen zu finden? Vielleicht. Aber es geht. Ein Mittel dazu wäre z.B. kompetentes Coaching, das nicht vordergründig nach Lösungen sucht, sondern dabei begleitet, innere Prozesse ans Licht zu bringen.
Wenn man Gefühle als Wahl versteht - siehe mein Posting vom letzten Sonntag -, dann gilt das nicht nur für den Aspekt der Selbstregulation. Denn neben der auf sich selbst gerichteten Frage „Wie antworte ich auf äußere Reize?“ ist die Frage „Was möchte ich anderen Menschen emotional mitteilen?“ im Spiel.
Gefühle erfüllen eine Funktion im Kommunikationsgeschehen. Sie sind Medien der Mitteilung. So wie Sprache. Sie bezeichnen Absichten, sie machen die Annahme von Kontaktwünschen (un)wahrscheinlicher, sie machen den Rückzug anderer (un)wahrscheinlicher, sie unterstützen günstig oder ungünstig die Resonanz von anderen auf eigene Bedürfnisse.
Wie beim Selbstbezug ist auch beim Fremdbezug entscheidend, wie stabil ich regulieren kann, ob, was und wie ich Gefühle in sozialen Situationen äußere. Es geht also nicht (nur) darum, vermeintlich „vorhandene“ Gefühle zu zeigen. Dann wäre man ja nur eine besondere Art von „Bildschirm“, der anzeigt, was im vermeintlich „Inneren“ vor sich geht. Das wäre eine viel zu eingeschränkte Sicht der Funktion von Gefühlen, die keinen sozialen Bezug haben. Versteht man Menschen grundsätzlich als aufeinander bezogenen Wesen, dann lernt jeder Mensch von klein auf, wie er gefühlvoll auf andere in Resonanz gehen kann und wie er sich gefühlvoll mitteilen kann, um den Kontakt zu anderen so zu gestalten, wie es seinen Bedürfnissen entspricht.
Weinen etwa ist nicht nur Ausdruck von Schmerz, sondern auch Ausdruck vom Wunsch nach Trost oder Hilfe. Wir wählen Gefühle, um Reaktionen anderer hervorzurufen. Schon deshalb sind Authentizitäts-Konzepte, die suggerieren, dass es darum ging zu zeigen, was los ist, unterkomplex bzw. falsch.
Häufig wird es kritisch gesehen, wenn man Gefühle zeigt, „um etwas zu erreichen“! Aber genau das ist eine ihrer Funktionen. Das tun wir alle. Ständig. Ohne Gefühle zu BEnutzen, würde jedes Zusammenleben zusammenbrechen. Auch das Verbergen von Gefühlen ist ein Mittel Gefühle zu nutzen, welches so hilfreich (oder schädlich) sein kann, wie Gefühle zu offenbaren. Das ist z.B. dann der Fall, wenn es auf einer Bilanzpressekonferenz sehr wenig goutiert werden würde, wenn der/die Betreffende vor Angst mit den Zähnen klappern, vor Scham hochrot oder vor Verzweiflung in Tränen aufgelöst sein würde.
Gefühlsäußerungen werden immer auch gewählt, um andere zu bestimmten Reaktionen aufzufordern oder derartige Reaktionen zu erschweren. Sie sind nicht interne Vorgänge, sondern relationale Geschehnisse, die die Annahme des Kommunikationsangebotes erleichtern bzw. beeinflussen sollen, wie man verstanden werden will. Gefühle sind Mittel, um Absichten zu verfolgen. Wer das nicht kann oder als „Instrumentalisierung“ verdammt, dem fehlen wichtige Teilnahmemöglichkeiten im sozialen Feld.
Ganz besonders wichtig wird diese Kompetenz, wenn es darum geht, Führungsrollen angemessen auszufüllen. Ohne Gefühle einsetzen zu können, ist man hier nur eingeschränkt kompetent.
Niemand kann in die Psyche eines anderen schauen. Auch kein Coach oder Therapeut. Wir können einander wahrnehmen, aber nicht wissen. Das gilt auch für Gefühle: Der Selbstausdruck eines Menschen lässt sich nicht kausal einem Gefühl zuordnen. Weinen etwa kann vielen Gefühlen als Ausdruck dienen, Lachen ebenso. Niemand kann Andere eindeutig deuten.
Dennoch - so wie Menschen auf die Stille eines Waldes oder die Schönheit eines Sonnenaufgangs emotional reagieren, so stehen wir auch untereinander in Resonanzzwang. Wir sind in Resonanz auf die Atmosphären, die uns erfassen. Unweigerlich. Wir schwingen mit allem mit. Bewusst oder unbewusst. Stärker oder schwächer.
Wenn wir mit anderem und anderen in Resonanz sind, formen wir in uns einen emotionalen Zustand, welcher immer ein Ergebnis von drei Aspekten ist: Vom anderen, von uns selbst und von der Beziehung, die wir zum „Objekt“ unserer Resonanz haben. Wenn wir den Selbstausdruck anderer Menschen „lesen“, dann deuten wir diese Mischung, nicht die reale andere Person.
Das ist allerdings kein Mangel, weil Bezogenheit genau darin besteht, sich wechselseitig Anteil an diesen inneren Bilder zu geben. Der Satz „Ich liebe Dich!“ bedeutet, dass ich dem anderen sage, dass ich ein Bild von ihm habe, das ich liebenswert finde, eine Beziehung zu ihm habe, in der er mir Seiten von sich zeigt, die ich für Liebe „nutzen“ kann, und dass ich jemand bin, dem andere Menschen auf diese Weise wichtig werden können und der damit eine bestimmte Absicht verfolgt, z.B. die Bindung zu erhalten.
Daher ist es wichtig, von „Ich weiß etwas über Dich“ (=Wissen) auf „Ich erlebe etwas mit Dir!“ (=Resonanz) umzustellen. Gefühle verbinden das Du mit dem Ich und sind keine Phänomene im Ich. Das hat viele Folgen. Ein paar wenige seien genannt.
> Anonymes Feedback ist Gewaltausübung, weil ohne Absender und Beziehung Feedback als Merkmal des Empfängers angesehen werden müsste. Das ist immer falsch.
> Der Glaube, dass meine Wahrnehmung des anderen eine Wahrheit sei, ist Machtanspruch und kein Beziehungsangebot. Jede Resonanz ist Hypothese und ein Angebot zum Dialog.
> Maschinen und Persönlichkeitstests können kein Feedback geben, weil sie nicht resonanzfähig sind. Sie können Information liefern, aber kein Beziehungsangebot machen, da Resonanz auf Gefühle und Gefühle auf Körperlichkeit angewiesen sind. Resonanz reagiert auf Gleiches unterschiedlich. Das können körperlose Maschinen nicht.
> Organisationen „erzeugen" bei ihren Mitgliedern Gefühle, haben aber selbst keine - weil sie Kommunikationssysteme sind. Dieser Unterschied der Systemarten hat immense Folgen, weil Menschen in Organisationen ihre Gefühle nicht abstellen können und Organisationen nie nur gute Gefühle evozieren können. Daher passen Organisationen und Menschen ziemlich schlecht zusammen. Das ist so ähnlich wie mit der Natur, die uns erfreuen und quälen kann. Das können (und müssen) Organisationen auch.
Eine bedauerliche Engführung mancher neuropsychologischer Forschung ist, dass Gefühle als Phänomene im Hirn angesehen werden - weil man dort etwas messen kann. Weite Teile der "normalen" Psychologie behandeln Gefühle als eine Form der (wertenden) Kognition. Gegen diese Konzepte spricht überwältigend viel, am meisten jedoch die tägliche Selbsterfahrung.
Denn wer Gefühle „hat“, merkt, dass sie LEIBhaftig und nicht HIRNhaftig sind. Gefühle werden auch im Spüren von Muskeln, Faszien, viszeralen Organen, Knochen, Blutdruck und -puls erlebt. Wir schwitzen, erröten, erblassen, bäumen uns auf, zittern, verkrampfen, schwellen an, weiten uns, bibbern, erstarren, erschlaffen, ermüden, stampfen auf, schreien usw. usf. Denkt man sich für einen Moment aus dem Fühlen alles Körperliche weg, was bleibt dann vom Gefühl übrig? Wer sehen will, wie körperlich Gefühle sind, dem sei die Ausstellung von M. Abramovic in Zürich empfohlen.
An ihrer Kunst lässt sich allerdings noch etwas Weiteres entdecken. Gefühle sind nicht nur Phänomene des seelischen Innenraums. Sie sind Resonanzmedien an denen auch die unbelebte Natur Anteil hat. Gefühle sind auch Phänomene der Umwelt. Von Landschaften, Wohnungen, Hotels, Festen, Organisationen, Städten, Wetterphänomenen etc. gehen Atmosphären aus. Unsere Umwelt ist keine neutrale Projektionsfläche, in die wird Stimmungen hineinlesen, sondern sie ist eine affektiv gefärbte, die sich uns mitteilt. Wir werden von den Atmosphären und Gefühlen in unserer Umwelt emotional stimuliert und gestalten unsere Umgebung mit und in Gefühlen.
Löst man also Gefühle von der Idee, sie wären ein isoliertes, ausschließlich in der Psyche beheimatetes Geschehen, kommt man systemtheoretisch zu neuen Beobachtungsmöglichkeiten. Gefühle lassen sich nicht kontextlos begreifen. So können „Störungen“ des Gefühlslebens - wie Gefühlsarmut, Panikattacken, Hypochondrie etc. - als Resonanzphänomene auf einen äußeren Kontext verstanden werden, der innere, (scheinbar) vergangene oder künftige Gegenwarten aktualisiert.
Genauso kann man Gefühle in Gruppen als Resonanz auf die Gruppe und nicht auf einzelne Personen begreifen. Ebenso wird verständlich, warum Organisationen nicht werden funktionieren können, wenn sie auf die emotionale Koppelung von Menschen mit der Organisation nicht hinreichend reagieren. Auch Wirtschaft und Medien funktionieren nur, weil sie soziale Gefühlswellen und -regungen brauchen, die gleichzeitig viele Menschen erfassen.
Gefühle sind Einfallstore für Wirkungen. Über sie wird Einfluss genommen. Es ist deshalb essentiell, im Leben zu lernen, wie man auf Gefühle anderer einwirken kann und wie man sich vor unerwünschten Einwirkungen anderer schützen kann.
Darin besteht im Wesentlichen die emotionale Kompetenz im sozialen Feld. Genau dafür braucht es allerdings mehr als Hirn. Dazu braucht es einen Leib, der wahrgenommen werden kann. Fein, genau und vielfältig.
Eine besonders wichtige Kompetenz im Reich der Gefühle ist die Regulation von Intensität. Das wird häufig in zwei Richtungen fehlinterpretiert bzw. normativ aufgeladen.
Die eine ist die innerpsychische. Die Möglichkeit starke Gefühle zu erleben bzw. sie auszudrücken wird dann als gut oder psychisch „reif“ angesehen. Damit spricht man aber den einen Pol unangemessen heilig. Denn es ist ebenso wichtig, auch leise Gefühle bzw. stille und feinsinnige Ausdrucksformen erleben zu können. Dazu gleich mehr.
Die andere Fehlinterpretation ist, dass im Kontakt mit anderen, das „Teilen“ intensiver Gefühle als besonders erstrebenswert angesehen wird. Doch auch hier ist es genauso wichtig, dass man sich im Schweigen, in der Stille, im Sprachlosen begegnen kann.
Intensität umfasst leise und laut. Nur dann kann man sich zu allen Aspekten der Welt und von anderen Menschen in Resonanz gehen lassen. Die meisten Menschen haben einen Art Heimathafen. Sie neigen entweder zu laut oder leise. Das mag man als Teil seiner Persönlichkeit ansehen. Man tut allerdings gut daran, genau zu prüfen, ob nicht das Laute oder Leise in irgendeiner Weise mit Scham, Angst oder Unzulänglichkeit verbunden ist. Wer sich schämt, weil er zu exaltiert oder zu scheu ist, der könnte das zum Anlass nehmen, an sich zu arbeiten. Wer mit einem Ideal von Beherrschtheit oder von emotionaler Offenheit innerlich zugange ist, könnte das als Hinweis für einseitige Selbstregulation ansehen.
Nun gibt es natürlich auch die Fälle, in denen nicht nur ein Intensitäts-Pol im Erleben und im Kontakt ausgeklammert wird, sondern beide. Was ist, wenn überhaupt keine Intensität erlebt und praktiziert werden kann, weder laut noch leise, weder allein noch mit anderen? Ist das per se ein Problem? Ich meine ja, weil Intensität eine Form der Wahrnehmung ist, die man zum (Über-)Leben braucht. Starke Angst bekommen können, ist bisweilen unabdingbar um schnell Handeln zu können. Starke Lust empfinden zu können, ist bisweilen unabdingbar, um das Leben genießen zu können. Starke Trauer empfinden zu können, ist bisweilen unabdingbar, um loslassen zu können. Stille Freude empfinden zu können, ist bisweilen unabdingbar, um die Feinheiten des Lebens erfahren zu können, tiefe Stille empfinden zu können, ist bisweilen unabdingbar, um Allverbundenheit erfahren zu können. Alles nur Beispiele für unzählig andere.
Intensität dient in beide Richtungen der Bezogenheit und dem Ankoppeln an die soziale und natürliche Umwelt. Deshalb ist emotionale Gleichgültigkeit ein Problem. Sie ist nicht nur für die Betroffenen eine Verarmung, weil die Teilnahmemöglichkeiten am Leben eingeschränkt sind, sondern ebenso für ihre Umwelt, die sie weder hinreichend deuten, hinreichend einbeziehen und hinreichend ko-regulierend in Kontakt gehen kann. Dann wird zusammen leben wie zusammen arbeiten schwierig.
Wenn Attraktion und Aversion die bestimmenden Motive des Lebens sind, wird der Mangel (etwa Hunger oder Alleinsein) im Inneren und die Fülle im Außen (etwa Nahrung oder Kontakt) zum bestimmenden Faktor. Da liegt es nahe, dass sich evolutiv sowohl angenehme wie unangenehme Gefühle als nützlich erweisen. Sie bewahren uns vor Unangenehmen im Innen (Ekel) oder führen uns zu Angenehmen im Außen ( Geselligkeit). Schon bei dem Beispiel wird aber deutlich, dass diese Unterscheidung nicht komplex genug ist, um Orientierung zu geben. Denn man hilft einem Kranken auch dann, wenn man sich vor Eiter ekelt, und man kann durch angenehme Geselligkeit grundlegende Einsamkeit übertünchen.
Daher sind Gefühle und Bedürfnisse auf vielfache Weise verschränkt und verwurstelt. Gute Gefühle können uns in die Irre führen, schlechte Gefühle können wichtige Infos bergen. Bedürfnisregulation ist also auf angenehme wie unangenehme Gefühle angewiesen. Wer den Schmerz in den Fingerkuppen nicht aushalten kann, wird nie Gitarre lernen können. Hochleistungen aller Art sind ohne Mühen und Mühsal nicht zu erzielen. Warum machen wir so was? Warum ist ein müheloses Leben nicht attraktiv?
Das hat den einfachen Grund, dass es befriedigend ist, sich anzustrengen, und öde, wenn man Unangenehmes meidet. Die Psyche lebt von der Auseinandersetzung mit der Umwelt, in der sie existiert. Leben ist Rhythmus und deshalb auf Spannungszustände ausgerichtet: Ruhe und Bewegung, Anspannung und Entspannung, Kraft und Loslassen.
Wenn - wie in den bisherigen Folgen dargelegt - Gefühle uns an den Rhythmus des Lebens als Resonanzmedien koppeln, dann dienen Bedürfnisse dazu diesen Rhythmus mit „Material“ zu füllen: Mal Nähe, mal Distanz. Mal Sicherheit, mal Freiheit. Mal Einzigartigkeit, mal Zugehörigkeit. Gäbe es nur Nähe, Freiheit oder Zugehörigkeit als Bedürfnisziel wäre es einfach. Dadurch, dass Bedürfnisse miteinander in Konkurrenz, also in Spannung zu einander sind, erzwingen sie einen Rhythmus für unsere Selbststeuerung. Wenn es gut läuft.
Wenn es weniger gut läuft, dann verlieren wir diese Rhythmik oder sie entwickelt sich erst gar nicht. Ohne Vitalität, Identität, Bindung, Kraft und Hingabe können wir unsere Bedürfnisse nicht prägnant fühlen und ihnen Bedeutung geben. Wir geben zu schnell auf, sind zu schnell zufrieden, orientieren uns zu sehr an Anderen oder an uns selbst, halten an Überkommenen fest, erfahren zu wenig Befriedigung oder wechseln zu schnell die Ziele.
Das heißt, dass ein zentraler Aspekt im Leben mit Gefühlen darin besteht, dass wir wahrnehmen, wenn wir Emotionen festkleben oder sie ausschließen usw.! Gefühle wollen im Rhythmus unserer Bedürfniswahrnehmung aktiviert und deaktiviert werden. Gefühle sind wie Wasser, in dem wir schwimmen - wenn es gut läuft. Wenn nicht, werden wir weggetrieben, fortgespült und am Ufer zurückgelassen.
Dann fehlt innere Orientierung und man denkt sich aus, was wichtig ist, statt es zu spüren.
Gefühle, die ausgesprochen sind, sind keine. Der Satz „Ich liebe Dich!“ ist kein Gefühl, sondern eine Bezeichnung einer Wahrnehmung. Gefühle, die keinen Namen bekommen, sind keine. Ohne Bezeichnung bleibt (Selbst-)Wahrnehmung blind. Das weiß man seit Kant.
Deshalb ist die Frage: „Was fühlst Du?“ alles andere als trivial. Denn es entsteht durch eine solche Frage nicht selten die Situation, dass jemand nicht antwortet. Und zwar nicht, weil er nicht will, sondern weil er nicht kann! Dies ist ein häufiger Grund, warum insbesondere Männer nicht in Gespräche über ihr Innenleben gehen oder auch nicht in Therapie wollen, weil sie schon wissen, dass sie in Überforderung landen. Männer trifft das öfter, weil Mütter meist ihre frühen Bezugspersonen waren und diese oft (männliche) Gefühle nicht angemessen benennen, weil sie eben schon durch ihr blosses Sein, die weiblichen Gefühle besser in Sprache fassen können. Es ist kein Zufall, dass es sich gezeigt hat, dass Männer oft leichter in „Männergruppen“ therapeutische Fortschritte machen.
Aber jenseits davon bleibt ganz grundsätzlich eine der Fähigkeiten, die unabdingbar im Umgang mit Gefühlen sind, dass man sie benennen können muss. Damit bestimmt der Wortschatz auch das, was man fühlen kann. Manche Menschen können nur sagen, dass sie sich gut oder schlecht fühlen. Das ist genau genommen noch nicht mal ein Gefühl, sondern nur die Bewertung eines Gefühls, das nicht benannt ist.
Da Sprachen sehr unterschiedlich sind und oft sehr unterschiedliche Begriffe für Emotionen bereitstellen, fühlen auch die Menschen auf der Welt nicht gleich. Sondern sie fühlen so, wie es die Sprache(n) erlaubt/erlauben, die sie gelernt haben; sowohl als Muttersprache als auch als die Sprache der Mutter (oder anderer früher Bezugspersonen).
Einen wichtigen Effekt von Coaching und anderen Beratungsformaten kann man darin erblicken, dass Bezeichnungen für Selbstwahrnehmungsereignisse gefunden bzw. gelernt werden. Dazu braucht die Coach, Beraterin, Therapeutin ein hohes eigenes Differenzierungsvermögen. Sie oder er muss gelernt haben, über den eigenen Wortschatz hinaus, Empfindungen und Gestimmtheiten zu benennen. Ich selbst habe u.a. etwa jahrelang Gedichte und Prosa gelesen, um zu üben, dass andere Menschen anders fühlen und sprechen als ich. Niemandem fällt das in den Schoss.
Wenn zwei Menschen das gleiche Wort verwenden, um ein Gefühl zu bezeichnen, heißt das ganz und gar nicht, dass sie das Gleiche erleben. Darum ist es so wichtig, möglichst genau zu beschreiben, wie sich etwas eine Angst anfühlt, was dabei im Körper passiert, welche inneren Bewegungen damit verknüpft sind und welche Erwartungen damit einhergehen. Auch das muss trainiert und erlebt werden. Das ist einer der Gründe, warum man nicht coachen kann, sondern Coach ist. Denn keine Methode der Welt kann es ersetzen, dass ein Gegenüber aus dem Herzen heraus erkundet, was der andere erlebt.
Mitgefühl, ist also weit weg von Betulichkeit, vom Sich-kräftig-fühlen auf Kosten anderer, von symbiotischen Verbindungen und vom Versuch, Leid aus der Welt zu schaffen. Es ist eher eine Art und Weise sich mit Leid, Schmerz und Not in der Welt ebenso zu verbinden wie mit Freude, Lust und Leidenschaft. Ich nenne das gern pathische Kompetenz. Damit ist die Fähigkeit bezeichnet, selbst an sich und mit und an anderen leiden zu können und dabei glücklich zu bleiben. Eine hohe Kunst? Ja, ich hatte es oben ja angedeutet. Gerade in Organisationen braucht es sie heute mehr denn je.
Kompetent lustvoll zu sein, bedeutet seine eigenen Rhythmen zu spüren, diese in die Welt zu tragen, die Rhythmen anderer wahrzunehmen und sich dann mit andern rhythmisch zu verbinden. Diese Kompetenz braucht es selbstverständlich ganz besonders bei dem, was die meisten die längste Zeit im Leben verbringen: Beim Arbeiten.
Es ist nämlich ein "Grundtalent" von Organisationen, schwierige Umstände für Menschen zu schaffen. Die organisationale Notwendigkeit
- sachliche Aufgaben zu koordinieren, die Zielkonflikte bergen,
- soziales Miteinander von Menschen zu schaffen, die einander nicht ausgesucht haben, und
- zeitliche Synchronisation zu bewerkstelligen, die keine Rücksicht auf die Rhythmen von Menschen nimmt,
verdammt sie beinahe dazu, lustvolles Arbeiten zu erschweren.
Alle, die in Organisationen arbeiten, müssen Einschränkungen ihrer Autonomie hinnehmen. Sachlich, sozial, zeitlich. Liebesheirat und Organisation funktioniert nicht (lang). Schon zwischen zwei Menschen geht es bekanntlich öfter mal anders als erhofft. Lust auch dann aufrechterhalten zu können, wenn die Autonomie (= Möglichkeiten den Rhythmus zu wählen) begrenzt wird, erscheint aus dieser Perspektive als Grundbedingung, um in Organisationen vital bleiben zu können. Andernfalls droht dauerhafter Kampf und Rebellion oder fades Vor-sich-hin-schaffen, Dienst nach Vorschrift oder Depression.
Wie kann es gelingen, die eigenen Lustmöglichkeiten in beengten Handlungsräumen, unvertrauten Gemeinschaften und befristeten Zeitfenstern zu leben?
Dazu braucht es folgende Kompetenzen:
1. Wahrnehmung und Ernstnehmung meiner körperlichen Rhythmen und Pulsationen. Ohne Körperwahrnehmung gibt es keine Resilienz.
2. Unterscheiden können zwischen Spass und Lust. Mit Spass töten viele Menschen ihre Lustfähigkeit. Oberflächlicher Spass ist die Schwester der Depression.
3. Scham- und Schuldkompetenz, weil lustvolles Leben und Arbeiten oft auch in ein Gelände führen, das von Scham- und Schuldgefühlen bewohnt ist. Innere Tabus und Verbote töten Lust.
Wer diese Kompetenzen hat, der kann - wenn er oder sie will - fast jeder Arbeit Sinn verleihen, weil man seine Lust ausleben kann, in der Art WIE man etwas tut - und nicht auf ein bestimmtes WAS angewiesen ist.
Das Gefühl „Lust“ formt sich auch in Gruppen und in Teamarbeit aus. Jedenfalls solange Menschen dort sind und keine KIs.
Wenn Teams aus Beziehungen „bestehen“ (und Organisationen aus Kommunikation), dann sind die Muster dieser Beziehungen begreiflicherweise in hohem Maße davon beeinflusst, wie die Menschen ihre Rhythmen leben und koppeln. Beziehungen sind die Formen, die bestimmte Resonanzen wahrscheinlicher und andere unwahrscheinlicher machen. Wenn man gern zusammenarbeitet, weckt das mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auch Sympathie, Freude aneinander, Humor, Nähe und Begehren - alles Derivate von Lust.
Arbeitsteams sind daher zwangsläufig Luststimuli oder Unlustgeneratoren. Es reicht eine „Spassbremse“ im Team und schon ist die Stimmung dahin. Es reicht eine attraktive(r) Frau oder Mann und schon hat man Konkurrenz, Neid, Eifersucht und Selbstwertthemen am Tisch der Gruppendynamik. Es reicht einer, der den Erfolg des Teams für sich reklamiert und schon wird aus der arbeitsbezogenen Gruppenorgie eine Schlammschlacht der Unlustempfindungen.
Die wenigen Hinweise mögen genügen, um dafür zu sensibilisieren, dass Herz und Becken in Arbeitsteams mit über die Performance entscheiden. Wenn dem so ist, was folgt daraus?
Die Bindung an andere Menschen ist immer auch eine - in tiefenpsychologischer Sprache - libidinöse. Sie ist lustgetrieben (nicht sexuell, siehe Teil 15!). Daher spielt für die Leistungsfähigkeit von Teams nicht nur die berühmte „psychologische Sicherheit“ eine wesentliche Rolle, sondern vielleicht mehr, wie sehr die Beziehungen untereinander von einem Gefühl rhythmisierter Lebendigkeit unterfüttert sind bzw. werden. Je weniger die Personen Zugang zu ihrer Lust, Leidenschaft und Liebesfähigkeit haben, desto weniger wird im Team ein Resonanzfeld entstehen, welches das gemeinsame Tun mit Schwingung auflädt. Selbst so vermeintlich trockene Materie wie Philosophieren brachte Menschen wie Martin Heidegger und Hannah Arendt in eine Affäre. Die Beispiele ließen sich mehren.
Das ist kein Plädoyer für oder gegen private Techtelmechtel am Arbeitsplatz, aber sehr wohl eines, für eine Atmosphäre in der der Puls des Lebens vernehmbar ist. Kreativität und Innovation wollen gezeugt werden. Das geht mit Hirn und Herz nicht anders als bei anderen Arten der Fortpflanzung (=Innovation und Kreation). Menschen, die liebesfähig sind, sind auch leichter lust- und arbeitsfähig. Darüber wird wenig gesprochen, wenig geschrieben. Gott sei Dank aber durchaus gelebt.
Die Überschrift mag verwundern. Wofür sich paaren, wenn nicht wegen Lust? Ganz so einfach ist es nicht, ist doch Lustlosigkeit in Paarbeziehungen mindestens so häufig wie das Übereinanderherfallen.
Wenn Lust an Rhythmus gebunden ist - so die hier verfolgte These -, dann stellt sich die Frage, wie ein solcher Rhythmus in Zweierbeziehungen erhalten werden kann. Am Anfang einer Beziehung ist das seltener eine Frage, da hier der Stimulus der unbekannten Rhythmik der anderen Person die Tänzer zum Tanzen bringt. Aber was dann? Rhythmus verflacht und monotonisiert, wenn er nicht mit Variationen versorgt wird. Rhythmus wird instabil, wenn er keine Basis hat, die Variationen trägt und umfasst. Rhythmus wird kitschig, wenn er sich in immer gleichen Sequenzen wiederholt. Dann wird aus Lust banale Vergnüglichkeit, seelenlose Selbstbezüglichkeit und irgendwann Desinteresse und das Gefühl, dass einem gar nichts fehlt oder man wieder den Zauber des Neubeginns suchen muss, damit die Lust einen neu erfindet.
Es kommt daher in längeren Beziehungen darauf an, Sicheres und Freies wie Vertrautes und Improvisation zu verbinden. Es geht um die Regulation von Nähe und Distanz, Zupacken und Hingabe, Bestimmen und Bestimmt-werden. Diese Form des Miteinanders kann nur entstehen, wenn es von Herz und(!) Becken versorgt wird, sonst entsteht lustlose Liebe oder liebesfreie Lust.
Viele Menschen scheint das vordergründig nicht zu stören. Sie nisten sich in der lustlosen Liebe ein oder suchen ruhelos die liebesfreie Lust. Oder sie spalten diese beiden Pole und leben mit dem einen die Liebe und mit dem anderen die Lust. So leben die einen eine Depression des Beckens und die anderen eine Leere des Herzens.
Geben sich jedoch Lust und Liebe die Hand, wird es gefährlich. Denn dann droht allen Beteiligten der Verlust der Kontrolle über den Rhythmus. Jedes Paar, das sich darauf einlässt, will dann weder sich selbst noch den anderen besitzen. Sicherheit, Verlässlichkeit und Vertrauen erwachsen ausschließlich aus Bezogenheit, Einzigartigkeit und Intensität von Begegnung. Damit erwächst der Halt aus dem Miteinander. Die Attraktion ist die Folge der Relation und nicht umgekehrt! Lebenslange Beziehungen stehen dann auf einem anderen, festeren Fundament.
Stimmen diese Beobachtungen, dann besteht die Funktion von Lust in Paarbeziehungen darin, die Sicherheit im Leben in einer Verbundenheit zu finden, die nicht auf „Besitz“, sondern am Interesse an einer einzigartigen Begegnung im „Wir“ gründet. Das Vertrauen gründet also in der eigenen Fähigkeit, unter allen Umständen Kontakt zu halten und zu gestalten. Man vertraut nicht dem Partner, sondern der eigenen Kompetenz Teil einer Beziehung sein zu wollen. So sucht und findet man ein Beziehungsleben lang die Tanzschritte, die zu der Musik passen, die der Discjockey „Leben“ einem gerade jeweils so auflegt.
Diese Freude am Tanzen lebt davon, dass nichts sein muss und alles sein darf.
Ich beginne mit einer schlechten Nachricht. Die Suche nach Lust ist sinnlos.
Warum? Wenn man Lust im Außen sucht, also in einem Job, einer(m) PartnerIn, Kindern, Familie, Hobbys, Aufgaben, Ziele, Siege etc., die glücklich machen oder mit Lust versorgen, dann hat man eine höchst riskante und im Kern destruktive Strategie gewählt. Denn erstens - fällt das Außen weg, wird alles lustlos. Zweitens bleibt man ein Leben lang mit der Aufgabe betraut, die lustbringenden Kontexte zu finden und zu erhalten. Die Jagd nach Lust bestimmt das Leben.
Dabei ist alles immer da: Lust ist die Quelle allen Sinns. Sie sprudelt in jedem Menschen. Perlt wie in einem Sektglas. Die Funktion von Lust in der Selbstregulation der Psyche besteht darin, etwas wollen zu wollen. Bei sexueller Lust ist das den meisten Menschen unmittelbar einleuchtend. Man „bekommt“ Lust und will dann was…! Das ist bei Lust im Allgemeinen nicht anders. Etwas wird „attraktiv“, wenn wir unsere Lust daran heften. Nicht das Außen stimuliert Lust, sondern das Innen nutzt das Außen, um Lust zu entfalten, indem man sie auf ein Ziel hin ausrichtet. Dann kann es für den einen hoch lustvoll sein, Unkraut zu jäten und für den anderen ist es eine Qual. Das liegt aber nicht am Unkraut, sondern daran, ob das Jäten mit Lust aufgeladen wird oder nicht.
Ganz scharf gesprochen folgt daraus, dass man alles mit Lust aufladen kann. Andernfalls wären Phänomene wie sadistische Folter, Schinderei beim Training für Olympia, Besessenheit im Forschungslabor, selbstlose und freudige Pflege von Angehörigen etc. nicht denkbar. Würde ich im Schreiben von Texten nicht meiner Lust nachgehen, könnte und wollte ich das nicht tun. Es ist meine Entscheidung im Schreiben Lust zu erleben und es ist nicht das Schreiben, das mir Lust macht.
Hat man das verstanden, ändert sich das Leben. Denn dann geht es nicht mehr darum Glück, Sinn und Ziele im Außen zu suchen, sondern man ist beschäftigt die innere Quelle zu entdecken und zu entwickeln, die einen befähigt, letztlich bei allem(!), was man tut, die Möglichkeit zu haben, es mit Lust zu tun. Das klingt zu zunächst unglaubwürdig. Allerdings kennen das viele Menschen, wenn sie verliebt sind. Dann fällt alles andere auch leicht und die dämlichsten Tätigkeiten gehen leicht von der Hand. Man sieht alles durch die berühmte rosarote Brille. Die Lust der Liebe überträgt sich auf alles, was man tut.
In dieser Weise kann man leben. Wenn man will. Das heißt nicht, dass alles einerlei wird, dass es nichts Unangenehmes mehr gibt. Das wäre manisch oder grandios. Das heißt nur, dass man in jeder Situation des Lebens prüfen kann, ob man sich die Wahl gönnt, mit Lust oder Ärger, Scham, Schuld, Genervtsein, Trübsal oder Langeweile zu reagieren. Das heißt aber auch, dass die Kompetenz Lust in sich zu spüren und aufkommen zu lassen, zu einer der wichtigsten Kompetenzen wird, die man im Leben braucht.
Laut AOK hatten fast 10 Mill. Menschen in der BRD in 2022 eine Depression. 8% der Bevölkerung erleiden pro Jahr eine depressive Episode. Schon erstaunlich in einem so gut versorgten und chancenreichen Land. Oder vielleicht auch nicht?
Es ist hier nicht der Raum, die unglaublich unterschiedlichen psychodynamischen Verhältnisse, die hinter Lust- und Antriebslosigkeit stecken, können auch nur zu nennen. Mir geht es um einen ganz speziellen Punkt im Kontext meiner Gefühlsserie. Wenn Lust das Resonanzmedium ist, mit dem wir auswählen, was für uns attraktiv ist, und in dem wir erfasst werden, von dem, was einem gut tut, dann wird die Frage dominant, welche inneren und äußeren Bedingungen Lust fördern oder hemmen.
> Will man im Außen Bedingungen schaffen, die Lust töten, ist es das Beste, wenn man Überfülle schafft. Berge von Spielzeug, Massenkonsum jeglicher Art, Goldtalerpools wie bei Dagobert Duck. Implantiert man Primaten einen Chip im Hirn, der per Druckknopf einen Orgasmus auslöst, drücken diese endlos bis sie verrückt werden. Wohlstand ist gefährlich - viel gefährlicher als man denkt, denn aus Lust wird Sucht oder die Belanglosigkeit der Austauschbarkeit von „Spielzeugen“.
> Will man im Inneren Bedingungen schaffen, die Lust töten, ist es erfolgversprechend, Schmerz und Unangenehmen aus dem Weg zu gehen. Die Fähigkeit umfassende Lust zu empfinden, ist an die Bereitschaft gekoppelt, auch die tiefsten Abgründe der eigenen Schmerzerfahrungen kennenlernen zu wollen. So vernichten Traumaerfahrungen meist auch Lusterleben (und hier ist wie überall nicht primär die körperliche Form gemeint). Verdrängter und abgespaltener Schmerz führt zu chronischen Verspannungen und Einschränkungen der Empfindungsfähigkeit, die Lust verflachen und verarmen lassen. Dann wird aus Lust Spass, Vergnügung und Zerstreuung. Eine Verdichtung in intensives und alles in einem erfassende Erleben ist dann unmöglich.
> Will man Lust innerseelisch fördern, braucht es Übung im Spannungsaufbau und -erhalt. Nicht umsonst wird gerade dies in Schulungspraktiken wie Tantra o.ä. geübt. Andernfalls bleibt dem seelischen Meer nur das Gekräusel kleiner Wellen und Riesenwellen, auf denen sich surfen lässt, bauen sich nie auf. Viele Menschen wissen nicht, was sie versäumen.
> Will man Lust durch Reize von Außen stimulieren, ist der nun schon oft genannte Rhythmus das Entscheidende. Der Wechsel von Beat und Off-Beat - also Fokus und Weite wie Bewegung und Ruhe, Anspannung und Loslassen - schafft die Möglichkeit zu Vitalität und lustvollem Arbeiten. Darum sind Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnisse ohne Pausen so fatal. Wenn immer etwas geschieht oder geschehen muss, dann entsteht im Hintergrund der Seele die lustlose Leere, die man inzwischen auch Depression nennt. Die Seele verarmt in der Dauerreizung und der Schatten der Melancholie ergreift von ihr Besitz. So schützt sich die Seele - um den Preis, dass die eigene Lustquelle zu versiegen beginnt.
Beginnen wir mit Aristoteles: „Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.“
Es hat einen einfachen Grund, warum das so schwer ist: Zum einen ist Wut ein wichtiger und damit leicht zugänglicher Überlebensaffekt und gleichzeitig ist Wut oft losgelöst von Verbundenheit, hat ein Dosierungsproblem oder ist ein Ersatzgefühl.
Das Thema ist also kompliziert. Daher langsam und der Reihe nach. Was ist der Nutzen von Wut?
Wut braucht es um psychische Grenzen zu sichern. Sie ist eine affektive Form „Nein“ zu sagen. Nun sind allerdings seelischen Grenzen nicht wie Zäune oder Mauern sichtbar. Daher können andere sie übertreten, ohne es zu bemerken. So sind Konflikte schon mal vorprogrammiert.
Zudem: Seelische Grenzen stehen nicht fest, sondern sie sind Ergebnis einer Entscheidung darüber, womit man sich identifiziert. Womit man sich identifiziert, dazu sagt man „Ich“. Meine Wünsche, meine Erwartungen, meine Überzeugungen, meine Werte, mein Revier, mein Eigentum, meine Sonnenliege mit meinem Handtuch, meine Vorfahrt etc. Die Bedeutung die jemand etwas für seine Identität gibt, ist ebenfalls zunächst nicht so offensichtlich. Nimmt man im Autoverkehr jemandem die Vorfahrt, lachen die einen freundlich und winken einen durch, andere rasten aus. Mischt man sich im Meeting in den Bereich des anderen ein, kann man ebenfalls mit sehr unterschiedlichen Gefühlen rechnen: Dankbarkeit oder Wut.
Wenn also Identität nicht wahrnehmbar ist und gleichzeitig festgelegt wird (und nicht einfach vorhanden ist), wird der Mensch zu dem Wesen, das bestimmen kann, wer es sein will. Für die Sicherung dieser Identität braucht es ein schnelle und eindeutige Emotion: Wut. Folglich trennt Wut „mich“ vom Rest der Welt. „Ich“ und „Nein“ bedingen sich. Aber kein „Ich“ kann ohne den „Rest“ existieren. Damit weiß man, dass es auch Liebe braucht, um in (Ver-)Bindung mit anderen zu sein. So entfaltet sich die Paradoxie, dass Identität Wut und Liebe braucht: Wut ist damit immer falsch und richtig zugleich - wie Liebe im übrigen auch. Wut kann zu Selbstvernichtung führen, Liebe zur Selbstaufgabe. Konflikt oder Symbiose - so könnte man es zuspitzen.
Ein funktionaler Umgang mit Wut setzt also Selbstreflexionsvermögen voraus, weil es unabdingbar ist, zu klären, ob meine aktuelle Identifikation mit dem, was ich „Ich“ nenne, angemessen ist. Vielleicht ist es sinnvoll, lieber das Geld hergeben als das Leben. Aber wie ist das bei Überzeugungen?
Vielleicht ist Wut das Gefühl, dass wie kein anderes der Regulation bedarf. Es braucht ein Bewusstsein für das „Ich“ wie für das, was anders oder größer ist als man selbst. Wut ohne Verbindung mit dem Nicht-Ich zerstört sich oder andere, Verbindung ohne Wut verliert sich selbst im Unterschiedslosen. Wut braucht also Identifikation und De-Identifikation.
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